Das Hörgerät, der Tatort oder was Schweine mit gutem Hören zu tun haben

Mein Onkel hört schlecht. Das ist sehr vorteilhaft. Wir hatten nämlich schon zweifelhafte Besucher in seiner Wohnung, die mit ihm zur Sparkasse gefahren sind und sich 500 Euro schenken ließen ... jetzt hört er die Haustürklingel einfach nicht mehr. Das ist doch prima. Wenn ich ihn allerdings anrufe, dann muss ich lange klingeln lassen und lege zwischendrin zwei Mal auf. Es dauert einen Moment, bis der Klingelton bei ihm ankommt. Auch seinem Hausarzt ist aufgefallen, dass wir sehr laut mit ihm sprechen müssen und gibt uns einen Termin beim HNO-Arzt. Mein Onkel ist mäßig begeistert. Er sieht keine große Notwendigkeit für ein Hörgerät.

Beim HNO-Arzt machen wir unterschiedliche Hörtests. Ich gehe mit in die Kabine, weil ich unsicher bin, ob mein dementer Onkel versteht, was zu tun ist. Dann sitzt er da, mit den Micky-Maus-Kopfhörern auf den Ohren und dem Knopf in der Hand, auf den er drücken soll, wenn er einen Ton hört. Zuerst kommen die tiefen Töne, das geht noch relativ gut. Dann spielt die Arzthelferin die hohen Frequenzen ein – es fiept unerträglich laut, wird lauter und lauter. Ich bin kurz davor, mir die Ohren zuzuhalten. Mein Onkel schaut in aller Seelenruhe im Raum herum. Hat er vergessen, dass er den Knopf drücken soll? Ich spreche ihn also an: „Du musst den Knopf drücken, wenn du einen Ton hörst.“ Mein Onkel: „Ja, ich weiß. Aber da ist nichts.“ Alles klar, die hohen Frequenzen kann er also kaum noch hören. Nach den Tonfrequenzen kommt der Sprachtest. Es werden einzelne Wörter eingespielt, die mein Onkel nachsprechen soll. Auch das in den unterschiedlichen Frequenzen und Lautstärken. Insgesamt finde ich, ist diese Übung für meinen Onkel ein gutes Gedächtnistraining. Einige der Wörter hört er allerdings gar nicht, manche Worte hört er, aber er versteht sie nicht. Und einige Wörter versteht er – nur leider falsch. So sagt der Sprecher: „Stein.“ Mein Onkel wiederholt: „Schwein.“ Als Sprachwissenschaftlerin finde ich das hochinteressant. Ich lerne, dass die einzelnen Buchstaben oder Buchstabenkombinationen in unterschiedlichen Frequenzbereichen angesiedelt sind. Wenn die hohen Frequenzen nicht mehr gehört werden, dann sind die Buchstaben aus diesem Bereich fürs Gehör einfach futsch. Allerdings frage ich mich an dieser Stelle auch, welche Bedeutung der sonntägliche Tatort bekommt, wenn mein Onkel Sätze versteht wie: „Sag den Kindern, sie sollen nicht so viele Schweine ins Wasser schmeißen.“

High-Tech am Ohr – die modernen Geräte lassen sich sogar mit einem speziellen Receiver am Fernseher verbinden.
High-Tech am Ohr – die modernen Geräte lassen sich sogar mit einem speziellen Receiver am Fernseher verbinden.

Vom scheppernden Verstärker bis zur High-Class-Anlage am Ohr

Wir bekommen eine Verordnung für Hörgeräte. Mein Onkel ist weiterhin nur mäßig begeistert, allerdings auch nicht richtig abgeneigt. Von daher denke ich, es ist eine Chance, dass er mit Hörgeräten wieder besser am Leben teilhaben kann. Für meinen Onkel kommt nur ein Hörgerät in Frage, das hinter das Ohr geklemmt wird, da die Gehörgänge zu eng sind, um sie direkt ins Ohr zu stecken. Beeindruckend ist die Technik. Das Kassengerät ist mit wenigen Frequenzbereichen technisch sehr schlicht. Die Lautstärke ist nur über einen Knopf direkt am Hörgerät steuerbar. Das High-Class Modell dagegen spielt die Töne fein moduliert in über vierzig Frequenzbereichen aus. Es kostet allerdings auch entsprechend. Ich entscheide mich für das mittlere Niveau. Je nach Umgebung – laute Geräuschkulisse im Café oder ruhiges Zuhause – stellt sich das Hörgerät selbstständig auf die Lautstärke ein. Das finde ich für meinen dementen Onkel praktisch. Ich kann schließlich nicht erwarten, dass er mit seinen über 80 Jahren das Hörgerät immer wieder seiner aktuellen Umgebung anpasst. Dazu gibt es noch eine kleine Fernbedienung, mit der sich die Lautstärke zusätzlich von außen regulieren lässt. Mit den Hörgeräten im Ohr fahren wir nach Hause. An der Haustür fragt mein Onkel: „Was ist das für ein Tropfengeräusch?“ Ich: „Das sind die Autos, die auf der regennassen Straße lang fahren.“ Mein Onkel hört einiges, was bis dahin in seiner Welt schon lange nicht mehr existent war.

Wie mein Onkel mit Hörgeräten fast taub wurde

Allerdings sind die ersten Stunden Hören anstrengend, schließlich bekommt das Gehirn sehr viel mehr Informationen als sonst zur Verarbeitung. Über die Fernbedienung stelle ich das Hörgerät also sechs Klicks leiser ein. Seinem Pflegedienst hinterlasse ich eine lange handschriftliche Anleitung und die Bedienungsanleitung. Die ersten Tage lässt sich mein Onkel die kleinen Teile sogar noch einsetzen. Ich rufe täglich an, um ihn zu motivieren. Ein paar Tage nach dem Akustiker-Termin möchte ich wieder mit ihm sprechen. Er: „Was hast du gesagt? Ich verstehe dich nicht.“ Ich wiederhole mich mit lauterer Stimme. Mein Onkel versteht mich nicht. Das geht ein paar Mal hin und her. Ich frage nach den Hörgeräten. Die trägt er. Wir sind beide verzweifelt. Also sage ich ihm, er soll die Dinger ausziehen. Siehe da, wir können uns ganz wunderbar unterhalten. Nachdem wir aufgelegt haben, grübele ich, was los ist. Ich bekomme einen Lach-Flash. Der Pflegedienst hat wie von mir aufgetragen, nach dem Einsetzen der Hörgeräte, die Lautstärke brav mit ein paar Klicks runtergedimmt. Nur leider haben sie abends das Batteriefach nicht aufgeklappt. Das braucht es aber, damit unter anderem die Lautstärke wieder auf die Grundeinstellung zurückgestellt wird. Da dieser „Reset“ nicht stattgefunden hat, wurde die Lautstärke mit jedem Tag weniger ....

 

Schlussendlich war mein Onkel eher genervt und wir haben die High-Tech-Teile innerhalb der Probezeit wieder zurückgegeben. Mein Onkel hat offensichtlich nicht den Eindruck, er würde ohne die Hörgeräte in seinem Leben etwas verpassen. Wir sprechen jetzt halt wieder lauter. Und wer weiß, vielleicht findet er den Tatort mit Schweinen im Wasser auch einfach spannender.

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